Zeitenwende im Gesundheitswesen

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und die elektronische Patientenakte sind in Deutschland seit Jahren regelmäßig in der Diskussion – und in der Umsetzung. Im November 2024 hat sich Ralf M. Ruthardt mit Prof. Dr. Sylvia Thun über die grundlegenden Neuerungen unterhalten. Dabei hat er überraschende Erkenntnisse gewonnen.

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens und die elektronische Patientenakte sind in Deutschland seit Jahren regelmäßig in der Diskussion – und in der Umsetzung. Im November 2024 hat sich Ralf M. Ruthardt mit Prof. Dr. Sylvia Thun über die grundlegenden Neuerungen unterhalten. Dabei hat er überraschende Erkenntnisse gewonnen. 

Interview mit Prof. Dr. Sylvia Thun

Ralf M. Ruthardt | Herzlichen Dank, Frau Prof. Dr. Sylvia Thun, dass Sie sich Zeit für dieses Interview nehmen. Sie sind Direktorin und Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität des Berlin Institute of Health an der Charité Universitätsmedizin Berlin. 

Lassen Sie mich zum Einstieg ins Gespräch die Frage stellen, welches ein einfach erklärbarer Mehrwert einer umfassenden Digitalisierung im Gesundheitswesen für Patientinnen und Patienten aus Ihrer Sicht ist. 

Sylvia Thun | Die Patientinnen und Patienten bekommen schneller Informationen zum Gesundheits- und Krankheitszustand und präzisere Aussagen beispielsweise zur anstehenden Therapie. Denn mit digitalen Tools können wir die vielen Stationen erreichen, die in den Informationsaustausch involviert sind. 

Heute haben wir bereits die Möglichkeit, Arztberichte anzufragen. Aber diese sind in der Regel nicht allgemein verständlich, da je nach Therapeut oder Arzt unterschiedliche Termini verwendet werden. Durch digitale Anwendungen und mittels Künstlicher Intelligenz (KI) kann ein Arztbericht in die jeweilige Fachsprache übersetzt werden. 

Ralf M. Ruthardt | Übersetzung in die jeweilige Fachsprache, haben Sie gesagt … 

Sylvia Thun | … ja, damit ist gemeint, dass beispielsweise eine Chirurgin einen bestimmten Terminus verwendet, der einem Physiotherapeuten nicht unbedingt geläufig sein muss. Hier kann Künstliche Intelligenz dafür sorgen, dass es zu einem allseitigen Verständnis des Sachverhalts, nehmen wir den Kontext einer therapeutischen Empfehlung, kommt. 

Ralf M. Ruthardt | Kann man sagen, dass sich unter anderem drei nennenswerte Vorteile für Patientinnen und Patienten bei der Digitalisierung ergeben? Durch den besseren Austausch von Informationen wird unser Gesundheitswesen produktiver, weil die Akteure schneller und umfassender an aussagekräftige Informationen kommen. Der zweite Vorteil liegt bei den Patienten, welche eine höhere diagnostische Qualität erhalten, zugleich sich die Qualität der Therapieempfehlung optimiert und durch mehr Informationen der Gesamtzusammenhang besser nachvollziehbar wird. Als dritter Vorteil drängt sich mir auf, dass wo möglich Wartezeiten auf fachärztliche Beratung reduziert werden, weil nicht jedes Anliegen zu einem Arztbesuch führt, sondern der interdisziplinäre, digitale Austausch von Informationen und optional virtuelle Arztbesuche den Termin vor Ort in der Praxis erfolgreich ersetzen können. 

Sylvia Thun | Es würde so laufen, dass Patienten vorab Informationen und anhand von qualifizierten Apps am Smartphone eine erste Orientierung bekommen, ob die Beschwerden eine unmittelbare ärztliche Diagnostik oder Behandlung erfordern oder sich Patienten – anhand der ratgebenden App – gegebenenfalls selbst helfen können. Bereits heute kennen wir bei der „116177“, https://www.116117.de/de/patienten-navi.php also dem Patientenservice des ärztlichen Notdiensts der kassenärztlichen Vereinigungen, ähnliche digitale Hilfen. 

Ein weiterer Punkt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens sind vorgeschaltete Portale, damit vor Arztgesprächen von den Patienten die bereits vorhandenen Arztberichte hochgeladen werden können. Anhand derer kann sich der behandelnde Facharzt oder Klinikarzt vorbereiten. Dabei kann es zur Erkenntnis kommen, dass ein Arztbesuch nicht notwendig ist oder ein anderer Facharzt benötigt wird. Wir sparen Rüstzeiten, unnötige Termine und gewinnen zudem an Behandlungsgeschwindigkeit. 

Interessant ist auch, was heute in Deutschland den Großteil der Arztbesuche ausmacht. Da geht es um das Ausstellen von Rezepten und um Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Diese beiden Prozesse sind heute bereits digitalisiert und können von Patientinnen und Patienten genutzt werden. Dies entlastet massiv die Arztpraxen.

Ralf M. Ruthardt | Haben Sie Erkenntnisse, in welchem Umfang diese Möglichkeiten bei E-Rezepten und bei digitalen Bescheinigungen für Arbeitsunfähigkeit in den Praxen beziehungsweise von Patientinnen und Patienten in Anspruch genommen werden? 

Sylvia Thun | Das sind innerhalb ungefähr eines Jahres weit über 50 Prozent des Gesamtvolumens, was bereits digitalisiert abläuft. Das funktioniert sehr gut und ist eine wirklich nennenswerte Entlastung der Ärzte von administrativen Aufgaben. Immerhin reden wir hier von 244 Millionen E-Rezepten, die im ersten Halbjahr 2024 von Patientinnen und Patienten in Deutschland eingelöst wurden. 

Ralf M. Ruthardt | Das bedeutet konkret … 

Sylvia Thun | … dass es Arztpraxen gibt, die das Papierrezept mit Barcode nutzen, während andere bereits die Karten mit einem Token nutzen. 

Ralf M. Ruthardt | Gibt es Erkenntnisse, wie sich die Akzeptanz regional abbildet? Vermutlich ist der urbane Raum besonders agil. 

Sylvia Thun | Es sind überraschenderweise die über fünfzigjährigen Menschen auf dem Land, die diese elektronischen Möglichkeiten und die Online-Apotheken vor allem nutzen. Es sind nicht die „Hipster“ in Berlin; denn die haben an jeder Ecke eine Apotheke, in die man mal kurz reinspringen kann. Das ist eine Entwicklung, die ich sehr interessant finde. Man geht ja bei oberflächlicher Betrachtung davon aus, dass die älteren Menschen das nicht wollen. Aber genau die älteren und kranken Menschen sind diejenigen, die sich die Digitalisierung wünschen und diese nutzen.

Ralf M. Ruthardt | Das überrascht mich – und hat etwas Mutmachendes, wenn es am Ende nicht eine Frage des Alters ist, ob Menschen diese digitalen Chancen nutzen können. 

Sylvia Thun | Das eine ist die Digitalisierung, um zu entbürokratisieren, Prozesse zu verbessern …

Ralf M. Ruthardt | … und damit Ressourcen zu schonen. 

Sylvia Thun | Genau. Ich stehe aber vor allem für die bessere medizinische Behandlung aufgrund von besseren Daten. Durch umfassendere und qualitativ hochwertige Daten können wir in der Forschung die Medizin als solches weiter verbessern. Dieser Punkt ist mir sehr wichtig. 

Ralf M. Ruthardt | Bitte lassen Sie uns nochmals einen Gedankensprung zurück machen. Die überraschende Erkenntnis, dass im ländlichen Raum sich digitalisierte Prozesse bei Patienten schneller durchsetzen, habe ich verstanden. Mir ist der Blick auf die Altersstruktur noch wichtig. Gibt es Daten, die beispielsweise in der Altersgruppe ab 65 Jahren oder über 75 Jahren Unterschiede in der Akzeptanz oder bezüglich der Fähigkeit zur Nutzung digitaler Anwendungen aufzeigen? 

Sylvia Thun | Dazu habe ich keine Statistik. Aber es ist ja so, wenn man einmal verstanden hat, wie es geht, ist es für die älteren Menschen kein grundsätzliches Problem. Der übliche über Achtzigjährige kann das sehr wohl und Kinder und Enkelkinder sind beim Einrichten eine Hilfe. Also, da habe ich keine Sorge um die Akzeptanz. 

Ralf M. Ruthardt | Dann ist es vergleichbar mit der Einführung der EC-Karte in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Da haben viele alte Menschen die Technologie nicht verstanden, aber die der Anwendung der EC-Karte trotzdem erfolgreich praktiziert. 

Sylvia Thun | Quantität und Qualität der Daten gehen miteinander einher. Die Medizin ist nicht die Mathematik, sondern täglich kommt es zu neuen Erkenntnissen. Weltweit wird geforscht und die Daten und die Ergebnisse aus diesen Forschungen sind nicht so einfach zugänglich, wie man sich das im Allgemeinen vielleicht vorstellt. Als praktizierender Arzt in einer Praxis oder in einer Klinik möchte ich natürlich auf dem aktuellen Stand sein, wenn ich eine Behandlung individuell festlege. Nehmen wir Strahlen- und Immuntherapien, welche wir dem einzelnen Patienten angedeihen lassen. Das geht natürlich nur, wenn wir auf dem neuesten Stand der Erkenntnisse sind. Da hilft nicht das Lehrbuch von vor dreißig Jahren, sondern neue Methoden, die womöglich vor drei Wochen irgendwo in den USA entwickelt wurden. 

Natürlich ist vieles gesteuert von Krankenkassen und anderen beteiligten Akteuren, wenn es um beispielsweise die Finanzierung von Behandlungen geht. Aber auch dort werden diese Daten benötigt, damit dort neue Therapien bewertet, zugelassen und deren Bezahlung freigegeben werden. 

Ralf M. Ruthardt | Haben wir die Herausforderungen im Datenschutz, wenn es darum geht, dass die erforderlichen Daten zwischen den Beteiligten ausgetauscht werden können? 

Sylvia Thun | Der Datenschutz ist nicht unser zentrales Problem. Das ist weitgehend besprochen und gelöst. 

Ralf M. Ruthardt | Nun, die Daten haben wir Menschen ja weitgehend eh schon den sozialen Netzen gefüttert (lacht). 

Sie haben, Frau Prof. Dr. Sylvia Thun, von der Datenquantität und Datenqualität gesprochen. Wie muss man sich das vorstellen? Lassen Sie mich bitte einen Vergleich mit der modernen Navigation im Straßenverkehr ziehen. Früher hatten wir einen Straßenatlas und wussten durch Erfahrung oder eben auch nicht, dass es an Werktagen am frühen Vormittag auf der A8 vor München regelmäßig zum Stau kommt, weil viele Menschen mit dem Fahrzeug in die Stadt zur Arbeit unterwegs sind. Heute weiß mein Navigationssystem viel mehr: Es kennt nicht nur meine Streckenführung, sondern die aktuelle Verkehrslage und alternative Routen, die schneller oder kürzer zum Ziel führen. Es gibt mir warnende Hinweise, wenn Personen auf der Fahrbahn einer Autobahn gemeldet sind, und weist mich darauf hin, wenn ich in 500 Metern ob einer Beschränkung meine Geschwindigkeit reduzieren muss. Dieses quantitative enorme und qualitative hochwertige Datenpotenzial ermöglicht mir als Verkehrsteilnehmer ein sichereres, zügigeres und ggf. spritsparendes Ankommen an meinem Zielort im Vergleich zu meinem altgedienten Straßenatlas. 

Ist das ein vergleichbares Bild, wenn es um die Bedeutung von Quantität und Qualität von Daten im Gesundheitswesen geht? 

Sylvia Thun | Gesundheit ist komplexer als unser Navigieren durch den Straßenverkehr. Aber davon abgesehen ist der von Ihnen gewählte Vergleich etwas Anschauliches. 

Es muss gesagt werden, dass wir in der Medizin auf einem steinigen Weg sind. Wir haben deutlich mehr Erkenntnispotenzial vor uns. Vieles wissen wir heute nicht. Eine Menge an Forschungserkenntnissen kommt jeden Tag neu hinzu. Insofern erscheint der Straßenverkehr geradezu unterkomplex zu dem, was die Medizin an Herausforderungen zu bewältigen hat. Gerade deshalb sind die besagten Daten ein wichtiges Potenzial, welches es für den Fortschritt zu heben gilt.

Ralf M. Ruthardt | Einer der Schwerpunkte Ihrer Tätigkeit hat mit der Normierung zu tun. Viele kennen die Normierung aus der DIN, welche 1917 als Normenausschuss der Deutschen Industrie gegründet wurde. Zudem kennen wir erfolgreiche, wenn auch oftmals langwierige Normierungen im Zusammenhang mit dem Einzelhandel, wo EDIfact im Austausch von allseits verständlichen Daten eine bedeutende Rolle spielt. Ein weiteres Beispiel ist der VDA-Standard und seine Bedeutung für die Automobilbranche. In beiden Branchen hatten und haben die großen Konzerne die Marktmacht, gegenüber ihren Zulieferern eine Ansage zu machen und sich mit Erwartungen weitgehend durchzusetzen. Wie sieht es um die Normierung im Gesundheitswesen aus? Der Datenschutz scheint, so habe ich Sie verstanden, nicht die Hürde zu sein, die es zu überwinden gilt. Liegen die Herausforderungen an heterogenen Vorstellungen der Kliniken oder der Forschungseinrichtungen? 

Sylvia Thun | Das Thema Normierung ist den Bürgerinnen und Bürgern kaum präsent. Kaum jemand hat eine Vorstellung, wie weit wir von einer Datenqualität entfernt sind, die einen Austausch zwischen Instanzen oder zwischen Systemen ermöglicht. Alleine schon das alltägliche Maß Kilogramm wird in den Softwarelösungen nicht einheitlich bezeichnet. Man kann sich vorstellen, dass hier ein Missverständnis der Gesundheit wenig zuträglich ist … 

Ralf M. Ruthardt | … oder gar zum direkten Ableben führt, was kostenseitig sensibel ist, aber dem Lebensglück des Betroffenen abträglich ist. Okay, diese ironische Anmerkung ziehe ich wieder zurück. 

Es überrascht mich, dass wir bei der Normierung offensichtlich noch sehr elementare Schritte zu gehen haben.

Sylvia Thun | Wir brauchen im Gesundheitswesen vereinbarte und dokumentierte Informationen. Unser Problem liegt nicht bei Erwartungen der Kliniken oder der Forschungseinrichtungen. Vielmehr sind es die nicht-normierten Softwaresysteme. 

Ralf M. Ruthardt | Das macht mich fast sprachlos: Wir haben, wenn ich Sie richtig verstanden habe, zum einen ein Normierungsproblem im deutschen Gesundheitswesen. Zudem kennen wir auch die Beteiligten, die dieses Problem zu lösen haben?! Und das sind die Anbieter von Softwarelösungen bzw. die Geräteanbieter, die Softwarelösungen zur Steuerung ihrer Geräte und der damit zusammenhängenden Verarbeitung von Daten liefern. Es reicht also von der Patientenakte über diagnostische Softwaretools bis hin zum ERP-System. Habe ich das so richtig wiedergegeben? 

Sylvia Thun | Genau so ist es. Es ist nicht nur ein landesweites Problem. Auch in den Kliniken wie hier an der Charité haben wir über 300 Softwareprodukte, welche nur eingeschränkt oder gar nicht Daten austauschen können. Es ist ein unerhörter Zustand, welcher uns hier bei der Digitalisierung blockiert. 

Nehmen wir ein Arzneimittel als Beispiel: Da wird Hämoglobin von manchen Softwareprodukten mit „Hb“ und von anderen mit „hem“ oder mit „hbgl“ abgekürzt. 

Wenn wir nicht normieren, gefährden wir die Datensicherheit – sprich, eine Digitalisierung ist nur möglich, wenn die Normierung vorankommt. Wie soll eine digitale Patientenakte sinnvoll eingesetzt werden können, wenn wir nicht einmal die Laborwerte verlässlich hinterlegen können? Deshalb gibt es heute keine Laborwerte in der elektronischen Patientenakte (EPA), weil wir uns bisher nicht darauf geeinigt haben, dafür allseits eine ID (Identifikationskriterium) und die Terminologien LOINC und SNOMED zu nutzen. Seit nunmehr zwanzig Jahren warten wir darauf, dass die Softwareanbieter endlich „zu Potte kommen“. Es ist mühsam und ärgerlich. 

Es gibt konkrete und brauchbare Vorgaben, wie wir diese beispielsweise auf dem Forschungsdaten-Portal finden (siehe: https://forschen-fuer-gesundheit.de/). 

Ralf M. Ruthardt | Ich bin über dreißig Jahre in der Softwarebranche unterwegs gewesen, durfte Normierungen miterleben und kenne Lösungen, die die Datenkonvertierung zwischen Systemen vornehmen. Umso mehr bin ich geradezu entsetzt, dass diese als agil und innovativ wahrgenommene Branche der Softwareanbieter hier der Hemmschuh ist. 

Lassen Sie mich fragen: Haben Sie den Eindruck, dass große Anbieter wie beispielsweise SAP® oder SIEMENS® mit hoher Motivation und in angemessener Geschwindigkeit an einer Normierung mitwirken? 

Sylvia Thun | Es sind nicht nur kleinere Softwareanbieter. Mein Eindruck ist, dass auch die von Ihnen genannten Anbieter zu wenig Engagement zeigen, um bei der Normierung voranzukommen. Hinzu kommt, dass der Öffentlichkeit dieses Hemmnis wenig bekannt ist. Dabei könnte öffentlicher Druck die Sache unterstützen. 

Ralf M. Ruthardt | Haben die Universitätskliniken als maßgeblich in der medizinischen Forschung engagierte Körperschaften ihre Hausaufgaben gemacht? 

Sylvia Thun | Die 34 Universitätskliniken haben sich bereits vor sechs Jahren im Rahmen der Medizininformatik-Initiative (siehe https://www.medizininformatik-initiative.de/de/start) auf einen sogenannten Kerndatensatz geeinigt. Es ist somit für alle Beteiligten klar, mit welchen Datenformaten zu arbeiten ist. Das reicht vom radiologischen Befund bis hin zur Diagnose. Wir als Universitätskliniken halten uns an diesen Standard, welcher mit den internationalen Standards kompatibel ist. Unsere Hausaufgaben haben wir als Universitätskliniken gemacht. Ich bin deshalb so gut im Bilde, weil ich daran maßgeblich mitgewirkt habe – das ist „mein Kind“. 

Ralf M. Ruthardt | Woher kommen in Deutschland die Daten, die wir für die medizinische Forschung benötigen? 

Sylvia Thun | Neben den forschenden Einrichtungen gibt es eine Fülle von anonymisierten Daten bei den Krankenkassen. 

Ich muss es nochmals betonen: Wichtig ist, dass wir die Normierungen und den verlässlichen Datenaustausch hinbekommen. Das reicht dann von beispielsweise einem Robert-Koch-Institut, über Krankenkassen, Universitätskliniken und Kliniken und so weiter bis hin in die forschende Pharmaindustrie. Wenn die Softwareanbieter jedoch nicht mitziehen, haben wir ein Problem. Das muss ich hier schon mit aller Deutlichkeit sagen. 

Ralf M. Ruthardt | Lassen Sie mich bitte nochmals auf die Konstellation bei den Softwareanbietern zu sprechen kommen. Ich habe begriffen, dass das Problem im Wesentlichen an dieser Stelle verortet ist, wo ich es nicht vermutet hätte. Ich möchte gerne verstehen, ob es neben den großen Softwareunternehmen auch eine Vielzahl von kleinen oder mittelständischen Anbietern gibt, die womöglich mit der Weiterentwicklung ihrer Softwareprodukte – denken wir webbasierte Lösungen beziehungsweise an Lösungen im Sinne von Software as a Service (SaaS) – überfordert sind. Mit „überfordert“ meine ich, dass finanzielle Möglichkeiten unter Umständen limitiert sind oder die personellen Ressourcen nicht das erforderliche Wissen mitbringen. 

Sylvia Thun | Man muss es sich so vorstellen, dass es noch etwa zwölf Anbieter für Krankenhausinformationssysteme gibt. Dazu kommen wohl zweihundert Anbieter für den Bereich der niedergelassenen Ärzte. Zum Teil sind das Lösungsanbieter, die mit der Idee, eine ACCESS-Datenbank zu nutzen, ihr Tool entwickelt haben. Diese Tools sind viele Jahre alt und Weiterentwicklungen haben sich vor allem an gesetzlichen Notwendigkeiten orientiert. Mehr hat sich oftmals nicht getan. In der cloudbasierten Welt wurde wenig getan. 

Ralf M. Ruthardt | Grund hierfür könnte die von mir genannte finanzielle oder technologische Überforderung sein. Man kann nur schwer einen Entwickler, der seine Erfahrungen mit einer ACCESS-Datenbank gemacht hat, an die Entwicklung einer webbasierten Software setzen. Da braucht es Investment in Qualifikation oder gar Neueinstellungen und es braucht Zeit – und die kostet Geld. Wenn kleinere Softwareunternehmen ihre Softwarewartungsumsätze nicht für die Weiterentwicklung nutzen, sondern diese mehr oder weniger als Gewinn ausschütten, läuft das Unternehmen irgendwann auf Grund – oder geht unter. Womöglich ist es heutzutage nicht mehr machbar, mit einem kleinen Softwareunternehmen Lösungen für komplexe Zusammenhänge, wie diese im Gesundheitswesen, anzubieten. Ich äußere diese Hypothese vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen als Unternehmer und vor dem Hintergrund meiner Marktbeobachtungen. 

Sylvia Thun | Es gibt wahrscheinlich vielerlei Gründe. Einer davon kann auch sein, dass Anbieter ein in sich geschlossenes System generiert haben, um ihren Kunden die Möglichkeit des Systemwechsels zu erschweren. Solch geschlossene Systeme hindern uns natürlich im Datenaustausch und sind somit – wenn wir es mal auf die Ebene eines gesamtgesellschaftlichen Interesses heben – ein großes Ärgernis. Zwar erkenne ich Bewegung bei dem einen oder anderen Anbieter, aber mir geht das zu langsam. Wir wollen vorankommen, was die Digitalisierung im Gesundheitswesen anbelangt, und da sollten die Beteiligten mitziehen. 

Ralf M. Ruthardt | Ich schaue immer noch mit – bildhaft gesprochen – weit aufgerissenen Augen auf den Umstand, dass wir eher nicht den Stress bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens wegen des Datenschutzes oder wegen Befindlichkeiten in der Welt der Kliniken haben. Wir haben den Stress bei denen, die Softwarelösungen liefern und wenig willig, unwillig oder gar nicht in der Lage sind, die erforderlichen Entwicklungen zu tätigen. Unfassbar! 

Sylvia Thun | Wir haben im eigenen Haus SAP®ISH im Einsatz. ISH meint Industry Solution Healthcare und ist die Branchenlösung der SAP für Patientenmanagement und Patientenabrechnung für Gesundheitsdienstleister. Mit unserem Pool an über 100 Entwicklerinnen und Entwicklern haben wir die Möglichkeit, eigenständig Ergänzungen zu entwickeln. 

Ralf M. Ruthardt | … aber ist das Sinn und Zweck, dass man hier eigenständig entwickelt, wo es sich doch um allseits benötigte Features handelt? 

Sylvia Thun | Das ist ein Punkt. Aber es kommt ja noch hinzu, dass viele Krankenhäuser diese personellen und finanziellen Ressourcen zur Eigenentwicklung überhaupt nicht aufbringen können.

Ralf M. Ruthardt | Braucht es hierzu gesetzliche Vorgaben, um die Softwareanbieter im Sinne von Datennormierung und Datenaustausch zu „unser aller Glück“ zu zwingen? 

Sylvia Thun | Die Softwarehersteller haben sich bisher, so mein Eindruck, in Ermangelung solcher Regularien wenig bewegt. Frei nach dem Motto, wenn wir nicht handeln müssen, dann tun wir es auch nicht. Oder es wird darauf gewartet, dass irgendjemand diese allgemein sinnvolle Entwicklung bezahlt. Man könnte beinahe schon sagen: Ob die Patienten jetzt einen Vorteil durch die Digitalisierung haben oder ob diese mangels Normierung das Risiko eine Fehlbehandlung eingehen, ist den Herstellern quasi egal. Man kann es nicht verallgemeinern, aber Sie erkennen meine Verärgerung. 

Ralf M. Ruthardt | Ich halte fest: Die Patienten wollen die Digitalisierung im Gesundheitswesen … 

Sylvia Thun | … ja, wir haben 85 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung, und die eine oder andere laute Stimme in den sozialen Medien mag zwar einen anderen Eindruck vermitteln, ändert aber an der mehrheitlichen Zustimmung nichts. 

Ralf M. Ruthardt | Und wir haben kein Problem in den Kliniken und die Normierungen sind definiert. Es liegt an den Anbietern der eingesetzten Softwarelösungen. Damit kommen wir wieder zurück zur Frage, ob der Gesetzgeber an dieser Stelle die Umsetzung von Normen und die Offenheit der Systeme für den Datenaustausch erzwingen muss. 

Sylvia Thun | Dieser Tage [Anm. d. Redaktion: Herbst 2024] wurde das Gesundheits-Digitalagentur-Gesetz im Bundestag gelesen. Mit dem Gesetz soll unter anderem sichergestellt werden, dass die Systeme miteinander kommunizieren können – oder vielleicht sollte ich „müssen“ sagen. Es macht uns schneller und sorgt für eine verlässliche, stabile Digitalisierung unseres Gesundheitswesens. Dann haben wir endlich auch die Befunde schnell und für jeden eindeutig lesbar in den elektronischen Patientenakten. 

Ralf M. Ruthardt | Hat es Sie überrascht, dass mich Ihre Ausführungen und die Erläuterung der Problematik überrascht haben? 

Sylvia Thun | Nein, ich bin nicht überrascht. Denn die Bürgerinnen und Bürger bekommen hiervon zu wenig mit. Da braucht es investigativen Journalismus, um das auf den Punkt und es lautstark in die mediale Wahrnehmung zu bringen. Die Bürger hätten dann die Chance, in den Arztpraxen nachzufragen, ob dort geeignete Systeme eingesetzt werden oder der Arzt noch Freitexte in sein System tippt, die anschließend kein anderer automatisiert verarbeiten kann. Durch eine gesellschaftliche Sensibilisierung könnte hier ein konstruktiver Druck aufgebaut werden. 

Ralf M. Ruthardt | Eine selbstkritische Nachfrage: Habe ich mich auf unser Gespräch unzureichend vorbereitet? Hätte ich in großen Tageszeitungen, in Magazinen oder sonst wo bei meiner vorbereitenden Recherche auf den hier diskutierten Umstand stoßen können? 

Sylvia Thun | Nein, lieber Herr Ruthardt, das schreibt so kein Journalist. Mindestens ist es mir nicht bekannt. Ich habe den Eindruck, dass die Journalisten großteils danach nicht fragen oder die Zusammenhänge nicht verstehen. Zudem sind die großen Hersteller politisch aktiv und sorgen mit ihren Lobbyorganisationen dafür, dass ihre Interessen durchgesetzt werden. Die Krankenkassen wollten bis vor einem Jahr überhaupt wenig Transparenz. Ebenso verschiedene Interessensgruppen von Gesundheitsberufen. Im Gesundheitswesen basieren manche Geschäftsmodelle geradezu darauf, dass es keine oder wenig Transparenz gibt. Nehmen wir einmal mehr die Krankenkassen, die ihre Daten mit der Pharmaindustrie teilen. Ich habe davon noch in keiner Zeitung gelesen. Das sind meine Eindrücke. 

Das muss doch mal auf den Punkt gebracht und gesagt werden. 

Die Politik hat ihre Aufgaben ebenfalls in der Vergangenheit nicht erledigt. Man hätte schon vor 20 Jahren entsprechende Regularien verabschieden können. Offensichtlich haben sich bisher viele Akteure erfolgreich dagegen gewehrt. Darüber haben wir ja gerade gesprochen. 

Ralf M. Ruthardt | Die Leserinnen und Leser können aus unserem Gespräch mitnehmen, dass wir bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens grundsätzlich weit gekommen sind und sehr eine positive Einstellung der Patientinnen und Patienten dazu haben. Wir nehmen mit, dass die Umsetzung der vorhandenen Normierungsvorgaben durch Softwareanbieter die umfassende Umsetzung massiv behindert. Dies stört unmittelbar unser Potenzial in der medizinischen Forschung, die Qualität von Patientenbehandlung und die Produktivität im Gesundheitswesen, welche zu einer Reduzierung von Kosten führen würde. 

Sylvia Thun | Endlich mal jemand, der das Problem verstanden hat. 

Ralf M. Ruthardt | Ich bin Ihnen für das Gespräch und die Einblicke sehr dankbar, liebe Frau Prof. Dr. Sylvia Thun. Es ist ein wirklicher und den Lebensalltag betreffender Erkenntnisgewinn. 

Sylvia Thun | Ich bedanke mich auch. Das Gespräch mit Ihnen hat mir Freude gemacht. 

Hinweis: Das Interview und eine kurze Vita von Frau Prof. Dr. Sylvia Thun finden Sie im Magazin MITMENSCHENREDEN und können die entsprechende Ausgabe hier kostenlos herunterladen: https://bit.ly/3Wwx5Xv

Ihre Kommentare zum Newsletter sind willkommen.

Kontakt: Ralf M. Ruthardt | https://ruthardt.de | newsletter@ruthardt.de

 

Inhalt freibleibend. Irrtum vorbehalten.

Weitere Artikel

Eine progressive Migrationspolitik

Albert Einstein sagte uns: „Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Die alte Migrationspolitik ist gescheitert. Wir brauchen etwas Neues und Besseres.

Furcht vor Populisten?

Dort wo Politik vernünftig ist – lässt sie sich erklären und braucht Populisten nicht zu fürchten. Dort, wo Journalismus differenziert und den Inhalt der Schlagzeile vorzieht, gibt es keine Gründe für mediales Gebrüll.

Die Kraft des Perspektivenwechsels

Der Perspektivenwechsel ist eine zentrale Fähigkeit, die in vielen Bereichen unseres Lebens eine bedeutende Rolle spielt. Er ermöglicht es uns, Konflikte im Alltag zu lösen, interkulturelle Kompetenz zu entwickeln, technologische und diplomatische Herausforderungen zu bewältigen und durch Literatur und Kunst neue Einsichten zu gewinnen.

Warum der Ukraine Krieg DIE LINKE spaltet

Nicht nur was die Ursachen des Krieges, sondern auch was die Lösungsansätze betrifft, sind linke Akteure gespalten. Eine linksliberale Argumentation sagt schlicht und einfach: „Wenn Putin seine Soldaten zurückzieht, ist der Krieg vorbei.“

IHR FEEDBACK