Die Steuerung des Staates. Wider eine Überforderung der Politik.

Es scheint ein weit verbreiteter Glaube zu sein, dass der Staat in der Lage sei, gesellschaftliche Prozesse gezielt zu steuern. Der Staat soll Probleme wie Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Armut oder Umweltgefahren wirksam in den Griff bekommen.

In diesem Beitrag beschäftigt sich Prof. Dr. Heiko Kleve mit der Frage, welche Aufgaben der Staat in systemtheoretischer Perspektive hat. Geht es um mehr als Bedingungen zu schaffen, die die Selbststeuerung der autonomen Teilsysteme unterstützen?

von Prof. Dr. Heiko Kleve

Ende einer Illusion

Es scheint ein weit verbreiteter Glaube zu sein, dass der Staat in der Lage sei, gesellschaftliche Prozesse gezielt zu steuern. Der Staat soll Probleme wie Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Armut oder Umweltgefahren wirksam in den Griff bekommen. Wenn dies nicht gelingt, spricht man von „Versagen“ und sieht den Staat in der Pflicht, seine Steuerungsfähigkeit zu verbessern. Tatsächlich fußt diese Bewertung jedoch auf einer unrealistischen Erwartung. Denn das „Staatsversagen“ ist kein Ausnahmefall, sondern die Regel. Der Versuch, gesellschaftliche Probleme durch staatliche Steuerung zu lösen, offenbart regelmäßig die Grenzen staatlichen Einflusses.

Eine Möglichkeit, diese Defizite zu beleuchten, bietet die soziologische Systemtheorie. Aus dieser Perspektive betrachtet, lässt sich der Misserfolg staatlicher Steuerung als ein fast zwangsläufiges Resultat verstehen: Die komplexen, sich selbstorganisierenden Prozesse in der Gesellschaft, insbesondere solche in der Wirtschaft, folgen eigenen Dynamiken und Logiken, die sich prinzipiell staatlicher Kontrolle entziehen.

Systemtheorie

Der Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) führte eine neue systemtheoretische Sichtweise in die Sozialwissenschaften ein, die die klassischen Annahmen über Steuerung und Kontrolle grundlegend verändert hat. In diesem Ansatz wird die Gesellschaft nicht mehr als steuerbare Einheit gesehen, die sich von außen lenken lässt, sondern als komplexes System, das sich durch Eigenlogiken und Selbstbestimmungen der sozialen Systeme auszeichnet. Dieser Perspektivenwechsel basiert auf einer so genannten System-Umwelt-Unterscheidung, die das System als eine Einheit beschreibt, die sich von ihrer Umwelt abgrenzt und auf eigene, innere Prozesse und Abläufe verweist. Ein soziales System unterscheidet sich also durch seine internen Kommunikationsabläufe von dem, was außerhalb des Systems liegt.

Die Kommunikation, und nicht etwa einzelne Personen oder Handlungen, wird hierbei als grundlegendes Element sozialer Systeme betrachtet. Erst die wiederholte Kommunikation schafft die Strukturen, auf denen das soziale Leben basiert. Diese Kommunikationsprozesse werden als „selbstreferenziell“ beschrieben: Kommunikation verweist auf weitere Kommunikation und sorgt so für eine beständige Selbstorganisation des Systems. Dieser „autopoietische“ Charakter, wie ihn Luhmann nennt, bedeutet, dass soziale Systeme unabhängig von äußeren Intentionen agieren und sich selbst organisieren – auf der Basis dessen, was bereits kommuniziert wurde.

In der Folge können Handlungen von Individuen, auch wenn sie auf ein bestimmtes Ziel gerichtet sind, innerhalb eines sozialen Systems eine andere Wirkung entfalten als beabsichtigt. Selbst wenn zum Beispiel ein politischer Akteur eine bestimmte Maßnahme ergreift, um ein soziales Problem zu lösen, bestimmt die interne Dynamik des sozialen Systems, wie diese Handlung tatsächlich im kommunikativen Kontext aufgenommen und weitergeführt wird. In sozialen Systemen ist also nicht die Absicht des Akteurs entscheidend, sondern wie die Maßnahme in bestehende systemische Kommunikationsstrukturen eingebunden, d.h. wie die vermeintliche Steuerungshandlung im System interpretiert wird.

Steuerung des Sozialen: Handlung versus System

Um das Steuerungsdefizit des Staates zu verstehen, ist es hilfreich, zwei grundlegende Ansätze zur Steuerung zu betrachten: die handlungstheoretische und die systemtheoretische Sichtweise.

In der klassischen handlungstheoretischen Sichtweise geht man davon aus, dass ein Subjekt – zum Beispiel eine staatliche Einrichtung, etwa ein Ministerium – seine Umwelt gezielt beeinflussen kann. Diese Vorstellung basiert auf der Annahme einer linearen Ursache-Wirkung-Beziehung: Ein Akteur erkennt ein Problem und ergreift eine Maßnahme, die das Problem lösen soll. Solange das angestrebte Ergebnis eintritt, scheint diese Sichtweise zu funktionieren. Tritt jedoch das gewünschte Ergebnis nicht ein, wird das System als „störanfällig“ oder „überlastet“ wahrgenommen. Es zeigt sich, dass die Realität komplexer ist und sich soziale Systeme oft der geplanten Steuerung entziehen.

Im Gegensatz dazu erlaubt die systemtheoretische Sichtweise einen Prozess zu beschreiben, der nicht von einem Subjekt auf ein Objekt übertragen werden kann. Vielmehr betrachtet die Systemtheorie Steuerung als einen internen Prozess im System selbst. Ein Akteur kann zwar versuchen, ein System zu beeinflussen, aber das System entscheidet letztlich selbst, wie es auf die Maßnahme reagiert. Soziale Systeme operieren nach eigenen Regeln. Die Versuche, sie gezielt zu lenken, führen oft zu unerwarteten oder sogar gegenteiligen Effekten. Damit werden die Grenzen traditioneller Steuerungsideen hervorgehoben. Es wird zudem gezeigt, dass soziale Systeme zwar zur Selbststeuerung fähig sind, aber sich nicht zielgerichtet durch äußere Eingriffe lenken lassen.

Moderne Gesellschaft und ihre autonomen Teilsysteme

Ein zentraler Gedanke der modernen Systemtheorie ist, dass sich unsere Gesellschaft durch funktionale Differenzierung in autonome Teilsysteme auszeichnet. Diese Art der Differenzierung unterscheidet sich grundlegend von früheren Gesellschaften, die entweder in Gruppen (wie Stämme oder Familien) oder Schichten (soziale Hierarchien) unterteilt waren. In der modernen Gesellschaft ist die dominante Aufteilung jene in spezialisierte Funktionssysteme, wie Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Familie, Bildung oder Familie. Diese Systeme agieren jeweils eigenständig nach ihren Regeln. Die Wirtschaft entscheidet zum Beispiel nach der Logik „kann bezahlt werden oder nicht“, während die Wissenschaft die Frage „wahr oder unwahr“ stellt, und die Politik sich mit der Differenz „Macht oder Ohnmacht“ auseinandersetzt. Das bedeutet, dass jedes Funktionssystem gewissermaßen ein „eigenes Universum“ darstellt, in welchem jeweils bestimmte gesellschaftliche Aufgaben auf spezialisierte Weise bearbeitet werden. Dadurch entwickeln die Systeme ihre eigenen Logiken, die von außen kaum beeinflusst werden können. Sie sind autopoietisch, das heißt, sie reproduzieren und erhalten sich selbstständig.

Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft hat drei wesentliche Auswirkungen: Erstens: Jedes Funktionssystem arbeitet autonom und lässt sich nur schwer von außen beeinflussen. Dies bedeutet, dass etwa die Politik kaum direkten Einfluss auf die Wirtschaft nehmen kann, umgekehrt aber die Wirtschaft auch nur begrenzt die Politik steuern kann. Zweitens: Trotz ihrer Unabhängigkeit sind die Systeme voneinander abhängig. So braucht die Wirtschaft beispielsweise das Rechtssystem, um Verträge durchsetzen zu können, und die Wissenschaft ist auf die Finanzierung durch wirtschaftliche oder staatliche Mittel angewiesen. Und drittens: Es gibt keine „zentrale Instanz“ in der Gesellschaft, die alle Funktionssysteme überschauen oder lenken könnte. Jedes System bleibt auf seine eigene Perspektive beschränkt, sodass ein Gesamtüberblick oder eine vollständige Kontrolle über die gesamte Gesellschaft unmöglich ist.

Der Staat ist innerhalb dieses Modells kein autonomes Subjekt, das der Gesellschaft von außen übergeordnet ist. Stattdessen ist der Staat ein Konstrukt innerhalb des politischen Systems. Er hilft der Politik dabei, sich selbst zu beschreiben und organisiert die kollektive Entscheidungsfindung. Verschiedene Staatsmodelle, wie der Wohlfahrtsstaat oder der liberale Staat, prägen die Selbstbeschreibung der Politik und beeinflussen, wie politische Macht legitimiert wird.

Steuerung der Systeme

Mit der Systemtheorie kann betont werden, dass Steuerung nur dann möglich ist, wenn das steuernde Handeln selbst zum Teil des Systems wird, das es zu beeinflussen sucht. Nach dieser Prämisse ist gesellschaftliche Steuerung nur als Selbststeuerung der Funktionssysteme möglich: Die Systeme reagieren auf Veränderungen in ihrer Umwelt, aber auf eine selbstkonstituierte Weise, die systemintern und nicht durch externe Ursachen beeinflusst ist. Daher hat der Staat lediglich die Möglichkeit, über das, worüber er verfügen kann, die Umwelt der gesellschaftlichen Systeme, etwa der Wirtschaft zu gestalten, etwa über Geld, Rechtssetzungen sowie wechselseitige Abstimmungen und systemische Selbstreflexion.

Geldflüsse, also der Einsatz finanzieller Ressourcen durch Steuern oder Geldschöpfung, gelten als bedeutende Mittel der Gesellschaftsgestaltung durch den Staat. Der Staat kann durch finanzielle Zuwendungen die Programme und Funktionen der Teilsysteme beeinflussen, jedoch nur quantitativ. Diese Form der Steuerung hat begrenzte Wirksamkeit, da sie keine qualitative Beeinflussung der systeminternen Prozesse erlaubt. Letztlich bestimmen die Systeme, etwa die Wirtschaft, freilich wieder selbst, ob und wie sie etwa auf finanzielle Anreize des Staates reagieren.

Weiterhin kann die Politik wechselseitige Abstimmungen zwischen Systemen etwa gesetzlich einfordern. Sie verliert die alleinige Verantwortung für die gesellschaftliche Steuerung, da sie nur die Rahmenbedingungen für die Selbststeuerung der Systeme schaffen kann. Ein Instrument hierfür sind Verhandlungssysteme, die weniger auf verbindliche Entscheidungskriterien abzielen und stattdessen ermöglichen, dass etwa Konflikte autonom geregelt werden können.

Schließlich können sich Systeme selbst steuern, indem sie die Rückwirkungen ihrer Operationen auf die Umwelt und auf sich selbst reflektieren. Funktionssysteme agieren dann zwar nach wie vor selbstbestimmt, aber sie öffnen sich auch für fremdreferentielle Einflüsse aus ihrer Umwelt.

Selbststeuerung der Selbststeuerung

Die reflexive Selbststeuerung der Funktionssysteme bedeutet, dass die Systeme ihre Steuerungsmechanismen auf fremdreferentielle Bedingungen abstimmen, um sich eigenständig zu koordinieren. Ein solcher Ansatz könnte den Staat entlasten, da die Funktionssysteme wechselseitig aufeinander abgestimmt handeln und so die Integration der Gesellschaft trotz Differenzierung ermöglichen.

So bleibt schließlich die Frage, welche Aufgaben der Staat in systemtheoretischer Perspektive überhaupt noch hat. Bestenfalls schafft er Bedingungen, in denen die Selbststeuerung der autonomen Teilsysteme unterstützt wird.

Dieser Beitrag ist erschienen in MITMENSCHENREDEN – Magazin für Mensch & Gesellschaft (Ausgabe 2024-04). Die komplette Ausgabe des Magazins finden Sie hier:

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