von Prof. Dr. Erick Behar-Villegas
Narrative umgeben uns in unserem Alltag auf vielfältige Weise. Sie sind systematisierte Erzählweisen, die die Realität auf Kosten einer kritisch denkenden Gesellschaft stark und oft zielgerichtet oder gar ideologisch vereinfachen. Dabei müssen Narrative nicht per se gut oder böse sein. Wichtig ist vielmehr die Fähigkeit mündiger Bürger, jeweils zu erkennen, wo und wie Narrative gezielt eingesetzt werden, um politische Debatten verkürzt zu führen und, im Extremfall, intellektuell und gesellschaftlich lähmend zu bewirken. Der folgende Text gibt Einblicke in die Psychologie der Narrative und stellt durch ein Fallbeispiel der Narrativforschung dar, wie Narrative und Realität/en sich deutlich voneinander entfernen können. Bewusst wurde ein Beispiel aus einem anderen Kulturkreis gewählt. Es betrifft ein Paradoxon im kolumbianischen Friedensprozess, dem bei hoher Friedensintention ein signifikanter Anstieg struktureller Gewalt gegenübersteht. Anhand dieses Beispiels wird auf weitere narrativpsychologische Themen eingegangen. Auf dieser Basis wird die heutige Realität in Deutschland genauer in den Blick genommen. Auf beiden Extremen eines ideologischen Spektrums führen Narrative dazu, dass das Land durch die Abschwächung des kritischen Denkens und den noch zu erläuternden Multiplikatoreffekt sozialen Schaden nimmt.
Einführung
Im Ablauf der Geschichte kommt es nicht selten zu einem seltsamen Paradoxon: Das, was wir uns erzählen und wie wir es uns erzählen, wird relevanter als das, was wirklich geschehen ist. Es geht darum, dass Narrative, d.h. intentional systematisierte Weisen des Erzählens (Halverson, 2011), uns Menschen und unsere Handlungen maßgeblich prägen. Sie wohnen uns inne und zeigen, wie die Psychologie und die Kunst der Überzeugung und Überredung funktionieren. In diesem Beitrag gehe ich der Frage nach, präziser gesagt, erzähle ich, was Narrative sind, was sie in der jetzigen Situation Deutschlands für uns bedeuten, wie sie entstehen und wie wir mit ihnen umgehen können, damit sie möglichst dem Gemeinschaftswohl (public value) dienen.
Narrative sind oft konkreter, als man denkt, denn weit mehr als der homo oeconomicus (der einseitig rational denkende und handelnde Mensch) ist der Mensch, wie er leibt und lebt, ein homo narrans, also ein in Erzählungen lebender und Realität im Wege der Erzählungen vermittelnder Mensch. Ein aktuell sehr bekanntes Beispiel ist das Klimamigrationskrisennarrativ, das die Themen Klimawandel und Migration auf simpelste Weise zusammenbringt, die Realität vereinfacht und die Migrationskrise dem Klimawandel zuschreibt (Lohmann, 2024). Wenn man ein solches Narrativ verwendet bzw. fraglos akzeptiert, dann braucht man nicht mehr in die Details hineinzuschauen, denn manipulative Narrative sind große Freunde der kognitiven „Faulheit“ und als solche ausgezeichnete Instrumente der ideologischen Manipulation. Sie ersetzen energieverbrauchende Prozesse des Gehirns und skizzieren uns ein schnelles Weltbild, mit dem „man“ sich zufriedengeben kann, um nicht weiter denken zu müssen. Der moderne Mensch ist ja chronisch in Eile und hat nur limitierte kognitive Ressourcen.
„We know how to tell many lies that sound like truth“ | Die Musen an Hesiod
Wir treffen deshalb auf eine mindestens doppelte Wirkung von Narrativen. Narrative können sehr „praktisch“ sein, wenn es darum geht, echte Geschichtserzählungen (z. B. die Lebensgeschichte einer Person samt der damit verbundenen Komplexität und Einzelheiten) auszublenden. Wenn sie indessen positiv wirken, so tun sie dies, weil eine solche Vereinfachung der Realität auch einen guten Effekt haben kann.
Ein weiteres, kompliziertes und nicht ganz politisch-korrektes Beispiel ist das Diskriminierungsnarrativ. Damit wird gemeint, dass man eine breite Palette von Situationen, Aussagen und sogar Gedanken und Interaktionen plakativ und direkt als Diskriminierung kennzeichnet. Aber die Diskriminierung war und ist ja eine bewiesene Realität. Warum also Narrativ? Realität und Narrative können voneinander getrennt leben, bis sie irgendwann wenig miteinander zu tun haben. Denn man kann, wenn man kohärent und objektiv ist, nicht alle Situationen als Diskriminierung bezeichnen und dabei intellektuell und moralisch präzise sein. Solche Komplexitäten, die man heute absurderweise nur mit Seidenhandschuhen aus Angst berühren darf, sollten uns als Gesellschaft beschäftigen, denn wenn wir sie nicht entwirren, verwirren sie uns hin zum Punkt des intellektuellen Autonomieverlustes.
Anders formuliert: Wenn wir uns nicht dessen bewusst sind, wie Narrative entstehen, und sie nicht ansprechen und entschlüsseln dürfen, zerfällt nach und nach eine der wichtigsten demokratischen Errungenschaften, d. h. die Freiheit des kritischen Denkens. Da Narrative im politischen Kontext wichtig sind, und das politische Denken wohl als „bedeutsamste Form des Denkens“ gesehen werden kann (Frank Dohrmann, 2024), lohnt es sich, an die Thematik und umso mehr an ihre Implikationen zu denken.
Was sind Narrative überhaupt?
Narrative sind systematisierte Erzählweisen die einem oder mehreren Interessen zugrunde liegen. Laut S. Geisel (2022) war der Begriff in den 70er-Jahren in der deutschen Sprache eher neutral. Heute ist er eher politisch, sogar ideologisch. Einige Narrative können wir als manipulativ betrachten, wenn sie ideologisch geprägt sind und sie und ihre Förderer von der Ausblendung der Realität profitieren. Wir verkleiden ja die Realität in überzeugenden Erzählungsweisen, die oft eine starke emotionale Dimension beherbergen. Dazu kommt noch, dass Narrative auch in Metanarrativen zusammenkommen (z.B. Gerechtigkeit, Freiheit, Sicherheit), die die Welt in einer bestimmten Art und Weise kohärent rekonstruieren. Unsere Weltanschauung wird gefiltert und wiederformatiert, als ob Narrative Brillengläser wären, die uns das Farbspektrum neu definieren.
Denken wir dabei an ein kurioses Beispiel. Wenn wir uns die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema Adipositas (obesity) anschauen, haben wir Hinweise auf eine Gefährdung der Gesundheit: Die Risikoliste beinhaltet laut dem National Institute of Health (2024) Folgeerkrankungen wie Diabetes II, Asthma, Kreislauferkrankungen, Arthrosen usw. Gleichzeitig aber gewinnt an Visibilität eine Verzweigung der „Body Positivity“- Bewegung, die man in den sozialen Medien auch als Fat Positive oder Fat Acceptance bezeichnet, obwohl es einige Nuancen gibt, die sie unterscheiden. Und da treffen wir auf ein kompliziertes Thema.
Die Bewegung ist Anfang der 60er-Jahre entstanden, und zwar mit einem lobenswerten Ziel: die Diskriminierung von übergewichtigen Menschen (fat-phobia) zu bekämpfen (Severson, 2019). Die Idee ist klar: dass Menschen, dünn oder dick, gleich zu behandeln sind. Ich selbst bin sehr stark dessen bewusst, wie brutal das Bullying sein kann, wenn man dick ist, denn ich war übergewichtig in der Schule, als ich in Ohio (USA) aufwuchs. Das breite Spektrum an Beleidigungen und Lustigmacherei, denen ich in meiner nächsten Schule ausgesetzt war, könnte ich vergebens hier zusammenfassen. Allerdings kann ich sagen, dass die Diskriminierung mich nie motiviert hat, um konsistent abzunehmen. Es war was anderes: die Stärkung des Selbstwertgefühls durch Familie, enge Freunde und Sport.
Und weiter: Das Thema der Adipositas-Akzeptanz verkomplizierte sich in den letzten Jahren, denn ein Teil der Antidiskriminierungsbewegung schlug einen Weg ein, den Kritiker als „Feier der Fettleibigkeit“ (celebration of obesity) bezeichnen (Cernik, 2018). Fat Positive wurde zu „Pro-fat“, also ein durch die sozialen Medien gestütztes Narrativ, das implizit oder explizit eine Verschlechterung der Gesundheit junger Menschen rechtfertigt, weil es „ok und gut“ sei, fettleibig zu sein. Daher kommt es zu beeindruckenden Bildern von Menschen auf TikTok & Co., die stolz und offen eine Menge an Fat Food gierig essen. Folglich gibt es auch tragische Konsequenzen, die hätten vermieden werden können. Deshalb überrascht es mich nicht, dass der Arzt und Autor E. Bernstein (2021, S. 161) Narrative als „Pathogen“ bezeichnet. Ein trauriges Beispiel ist der mit dem Kreislaufversagen verbundene Tod der 37-jährigen Aktivistin und Gründerin der Show „Super Sized Salon“, J. Lopez. Sie hat die Idee „gesund zu jedem Gewicht“ stark verteidigt und durch die Show verbreitet (Justice, 2022). Der Leser kann diese Debatte in den sozialen Medien selber erleben und sofort feststellen, dass wir hier mit einem komplexen, wenngleich interessanten psychologischen Thema zu tun haben. Wie funktioniert die Psychologie der Narrative? Diesem Thema widmen wir uns nun.
Die Psychologie der Narrative
In einem Experiment mussten die Beteiligten vor einigen Jahren eine Erzählung lesen und dabei jede Aussage ankreuzen, die sie für falsch hielten. Die Forscher haben herausgefunden, dass je tiefer die Beteiligten in dem Text waren, umso weniger falsche Aussagen kreuzten sie an (Polleta, 2008). Die Implikation in der Psychologie ist eindeutig: Wir lassen unsere Skepsis beiseite, wenn eine Geschichte uns überzeugt. In anderen Wörtern: Wenn du mir eine Geschichte erzählst, die ich mag und mich irgendwie überzeugt, bin ich (unbewusst) bereit, mein kritisches Denken und meinen Realitätsbezug teils oder voll auszublenden. Das Thema ist noch kurioser: Selbst die Erinnerung kann manipuliert werden. Ein gutes Beispiel hierfür haben Brainerd & Reyna 2005 in The Science of False Memory präsentiert: Kinder, die in Disneyland gewesen sind, berichteten, dass sie sich an Bugs Bunny aus ihrem Aufenthalt erinnern konnten. Aber es gibt einen Haken hier: Bugs Bunny gibt es nicht in Disneyland. Er gehört ja zu Warner Brothers (mit vielleicht einer lustigen Pseudo-Ausnahme 1955, als Hyde and Hare einen ähnlichen Bugs Bunny bei Disney zeigten!).
Eine natürliche Konsequenz unserer kognitiven Limitationen, wie oben dargestellt, ist eine suboptimale Einschätzung der Realität. Etwas mag blau oder grün sein, aber ich kann daran zweifeln, wenn ich stark von einem Narrativ beeinflusst werde. Um dies zu verstehen, können wir auf einen wichtigen Begriff der Psychologie greifen: die Schemata. 1932 erschien das Werk von F. Bartlett, der das Schemakonzept als eine abstrakte und „aktive Zusammensetzung von Erfahrungen“ definierte, die über ein Informationsmuster hinausgeht. In meinen Vorlesungen erkläre ich dies anhand eines Beispiels. Es kann sein, dass Sie, liebe(r) Leser(in), Fußball oder eine andere Sportart mögen, in dem Stadien relevant sind. Sie haben die Abstraktion des Stadions im Kopf und wissen ja, dass es generisch gesehen, sicherlich Türen, eine Arena, sanitäre Einrichtungen und eine Art Überdachung hat. Aber Sie kennen auch genaue Beispiele, die wir in der Psychologie „Exemplare“ nennen, also z. B. die Allianz Arena in München oder die Bombonera in Buenos Aires.
Mit dem Schema und den vielen Exemplaren ordnen Sie also die Information ein und ziehen daraus einen Sinn, einen Realitätsbezug. Für uns ist dies durchaus relevant, weil Narrative unsere Schemata beeinflussen und (re)organisieren (Bundgaard, 2007). Ein Narrativ sagt mir also, was ein Stadion haben sollte, und warum A ein Stadion ist und B vielleicht nicht. Damit (be)deutet wohl auf etwas das Narrativ, und zwar hilft es, die Realität zu vereinfachen. Denken wir nun an die Medien. Laut dem, was Max Weber „Idealtypus“ in Wirtschaft und Gesellschaft bezeichnete, wäre ein heutiger Nachrichtensender ein Medium der Information.
So einfach ist es aber nicht, und dies hat Ralf M. Ruthardt (2023, S. 69) in seinem Roman Das laute Schweigen des Max Grund präzise zusammengefasst: „Journalisten (…) haben nicht die Aufgabe, eine sogenannte Wahrheit unter das Volk zu bringen. Sie haben den Job, frei von eigenen Wertvorstellungen Sachverhalte zu berichten, Meinungen zu äußern und Meinungen als solche zu kennzeichnen“. Das ist der Idealtypus, aber die Psychologie der Narrative ist durchaus hilfreich um zu verstehen, dass Nachrichtensender Instrumente werden können, um Narrative als kognitives Schema gewisser Information zu verbreiten. Anders gesagt, Medien können stark instrumentalisiert werden, um Narrative durchzusetzen, weil Narrative unser Verhalten beeinflussen. In der Ökonomie hat sich R. Schiller (2019) damit tief beschäftigt. In Narrative Economics zeigte er, dass Narrative unser ökonomisches Verhalten prägen, sei es, um Produkte zu boykottieren, Aktien zu (ver)kaufen oder einfach, um unbewusste Kaufentscheidungen zu treffen, weil man glaubt, dass man das Richtige tue.
In meinen Wirtschaftspsychologie-Vorlesungen in Berlin und Monterrey sprechen wir ein schwieriges Thema an. Schwierig, weil einige es emotional angehen und sogar persönlich nehmen können. Ich beziehe mich auf das Vegan-Narrativ. Ich sage meinen Studierenden, dass ich weder für noch gegen das Vegansein bin. Aber ich erkläre auch, dass ich durchaus gegen falsch informiertes Konsumverhalten bin. Ich erzähle Ihnen eine kurze Geschichte, um das Thema aufzuklären. In einer low-sugar Bäckerei eines Freundes in Berlin kamen einmal zwei vegane Kunden. Sie waren sauer auf ihn, weil er keinen veganen Kuchen anbot. Das sei diskriminierend (Narrativ der Diskriminierung?) und vegan sei gut, weil gesund. Und da, sage ich meinen Studierenden, gibt es kein happy ending in der Geschichte. Alle waren frustriert in der Bäckerei. Ich selbst auch, als ich die Geschichte erfuhr. Vegan heißt nicht automatisch gesund, und ein nicht kritisch denkender Mensch kann wohl anhand der durch das Narrativ entstandenen Abstraktionen schnell darauf reinfallen. Wir können durch Narrative unser Verhalten direkt ändern, selbst zu Ungunsten unserer Gesundheit.
Fazit
Narrative vereinfachen unser Verständnis der Realität. Sie können zu einem Überoptimismus führen, der nicht nur realitätsfern ist, sondern auch wichtige Implikationen im politischen Kontext hat. Denn politische Narrative sind enge Vertraute des Populismus, wenn sie ideologisch strategisch eingesetzt werden. Daher reflektieren sie eine Verfallsform politischen Denkens. Narrative müssen aber nicht schlecht oder gut sein. Vielmehr ist die Art und Weise, wie sie aufgebaut und systematisiert werden, eine Herausforderung für kritisch denkende Bürger, die nicht in den Extremen des Spektrums stehen möchten, sondern möglichst objektiv bleiben wollen.
Das Fallbeispiel Kolumbiens zeigt, wie ein Narrativ auf eine widersprüchliche Realität treffen kann, die es selbst fördert und gleichzeitig von den Fördernden des Narrativ nicht anerkannt wird.
In diesem Artikel wurde eine Analogie präsentiert, die Narrative als Brillen betrachtet, die unsere Wahrnehmung der Umgebung beeinflussen. In Zeiten der sozialen Medien besteht die Gefahr, dass ideologisch gestützte Narrative befeuert werden und dabei zu radikalen Verhaltensformen führen, die kaum demokratische Werte vertreten. Eine kritisch denkende Gesellschaft muss in der Lage sein, nicht nur ehrlich zu diskutieren, sondern auch manipulative Narrative zu enthüllen, um gemeinwohlfördernde Lösungswege zu finden.
Hinweis: Dieser hier auszugsweise veröffentlichte Artikel von Prof. Dr. Erick Behar-Villegas ist erschienen in MITMENSCHENREDEN – Magazin für Mensch & Gesellschaft (Ausgabe vom 15. Nov. 2024). Die Ausgaben des Magazins können Sie hier kostenlos herunterladen und den kompletten Artikel im Magazin lesen: www.mitmenschenreden.de
(c) Ralf M. Ruthardt, 2024 | https://ruthardt.de
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