Ein Interview mit Vanessa Hoffmann, die in Berlin Kunstgeschichte studiert.
Auf die Zeit der Kolonialisierung gibt es differenzierte oder voneinander abweichende Sichten. Es ist hilfreich, wenn man die jeweilige Perspektive für einen Moment einnimmt, um diese zu verstehen oder nachvollziehen zu können. So kommt ein gesellschaftlicher Diskurs voran. Hier nun ein Interview, in welchem Vanessa Hoffmann von Ralf M. Ruthardt im Juli 2024 in Berlin nach Erläuterungen und Hintergründen zu den Initiativen rund um die Dekolonialisierung gefragt wurde. – Das Interview ist in der Ausgabe 2024-03 von MITMENSCHENREDEN – Magazin für Mensch & Gesellschaft erschienen. Ein Link zum kostenlosen Download findet sich am Ende dieses Artikels.
Ralf M. Ruthardt | Es gibt für mich als Schwaben ein Wort, mit dem ich mir jetzt die Zunge breche. Ja, Kolonialisierung kann ich noch aussprechen, aber bei „dekolonialem Denkmal“ wird’s dann schon schwierig. Aber das habe ich ja lang genug geübt. Vanessa Hoffmann, sei so lieb und erklär mir, was ich darunter zu verstehen habe.
Vanessa Hoffmann | Der Zungenbrecher „dekoloniales Denkmal“ ist eine Wortschöpfung von der Organisation Berlin Globe Village. Diese Organisation ist ein Zusammenschluss von Menschen, die sich vor allem mit dekolonialen Gedanken beschäftigen. Es geht um die Kolonialisierungszeit Deutschlands und die daraus resultierenden Ungerechtigkeiten und strukturellen Probleme. Vor allem beschäftigt sich Berlin Globe Village auf gesellschaftspolitischer und künstlerischer Ebene damit. Diese Organisation befindet sich in Berlin-Neukölln. Es ist das Berliner Eine-Welt-Zentrum. Dort teilen sich rund fünfzig entwicklungspolitische und migrantisch-diasporische NGOs Büroräume.
In Veranstaltungsräumen gibt es kulturelle und politische Angebote. Berlin Global Village setzt sich, soweit ich es verstanden habe, für gesellschaftliche Veränderungen und für globale Gerechtigkeit ein. Sie hatten einen Wettbewerb ausgerufen, an dem man anonym teilnehmen konnte. Das Berlin Global Village hatte nach einem künstlerischen Entwurf gesucht, um ein dekoloniales Denkzeichen in Form einer künstlerischen Intervention (z. B. Skulptur) zu gestalten. Daran haben viele teilgenommen und letztendlich hat das Lockward Collective gewonnen. Die drei Teilnehmer:innen des Kollektivs haben eine Skulptur namens „EarthNest“ entworfen. Das kann man googeln; dazu gibt es auch Fotos zu den Entwürfen. Diese Skulptur soll einen Platz für das Zusammenkommen schaffen, um den Gedanken der kolonialen Machenschaften wieder ins Bewusstsein zu rufen. Es soll insbesondere für die Menschen sein, die bis heute noch vom Kolonialismus betroffen sind und strukturellen Rassismus erfahren.
Dieses „Erdnest“ soll aus einer Kuppel und einem darunterliegenden unterirdischen Gang bestehen. Im unterirdischen Gang wird, soweit ich mich erinnere, die Erde von ehemaligen Kolonien vergraben. Unter der Kuppel können Menschen aus den Wohngebieten Berlins einen Platz finden, um sich zu treffen und auszutauschen. Es soll ein Ort sein, der zu Gesprächen und Diskursen anregt. Es wird das allererste dekoloniale Denkmal in ganz Deutschland sein und es wird hier in Berlin sein.
Ralf M. Ruthardt | Das finde ich einen schönen, sehr weitreichenden Gedanken. Einerseits stellt man sich der Aufarbeitung, macht sie dauerhaft sichtbar und verbindet dies mit einem interaktiven Aspekt. Eine tolle Sache. Ich habe ein Bild von diesem Konzept gesehen; es sieht ein bisschen wie ein Ei aus.
Vanessa Hoffmann | Ja, genau. Aber es liegt im Auge des Betrachters, was er damit verbindet. Diese Skulptur soll den Gedanken der kolonialen Machenschaften wieder ins Bewusstsein rufen und einen Platz für die Menschen schaffen, die bis heute vom Kolonialismus betroffen sind und strukturellen Rassismus erfahren.
Ralf M. Ruthardt | Das ist wirklich beeindruckend. Es gibt ja gute Gründe, sich mit der kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen, auch wenn Deutschland nicht so viele Kolonien hatte wie andere Länder. Gibt es da einen speziellen Länderschwerpunkt, mit dem du dich auseinandergesetzt hast?
Vanessa Hoffmann | Ja, ich habe mich mit Portugal beschäftigt. Dort gibt es eine riesige Statue, die die Kolonialzeit verherrlicht. Diese Statue reflektiert nicht die Machenschaften während der Kolonialzeit, sondern zeigt eher den Stolz und die wirtschaftlichen Erfolge. In Portugal gibt es kaum eine kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit, während wir hier in Deutschland versuchen, diese Vergangenheit aufzuarbeiten.
Ralf M. Ruthardt | Es ist wichtig, diese differenzierten Blicke zu haben. Und wenn hier über die Portugiesen und deren koloniale Vergangenheit gesprochen wird, dann möchte ich hierzu etwas ergänzen. Vielleicht haben die Menschen in Portugal eine etwas andere Sicht. Deren Vorfahren haben als Weltentdecker Mut bewiesen, die Seefahrt beherrscht und mit dem Handeln für einen Teil der Gesellschaft für Wohlstand gesorgt.
Es steckt ja auch ein Entdeckergeist und eine Innovationskraft dahinter. Wer sich mit der portugiesischen Art der Kolonialisierung auseinandersetzt, wird feststellen, dass die Portugiesen kaum Kriege um ihre Kolonien geführt haben. Sie haben sich immer ein bisschen mit den Engländern zusammengetan und wenn es eng wurde, haben sie ihre Kolonie hergegeben und gegen etwas anderes getauscht, Hauptsache, sie mussten nicht in den Krieg. Das ist kein Rechtfertigungsgrund für was auch immer, aber ein interessanter Aspekt. Ein weiterer Gedanke ist, dass es womöglich sehr unterschiedliche Kolonialisierungsstile gibt.
Mir ist es wichtig, differenziert an die Sache heranzugehen und auch den Mut zu haben, die damalige Zeit zu würdigen. Im Humanismus war man nicht so weit wie wir heute. Damals wurde Gottes Segen durch die Kirche für allerhand Missbräuchliches gespendet. Es sei das Gute, hat es dann geheißen. Es sei Gottes Wille, hat man den einfachen Leuten zugerufen, die ihre Arbeitskraft und womöglich Leib und Leben zu riskieren hatten.
Heute könnten es womöglich Ideologien sein, in deren Namen uns Menschen erklärt wird, was gut ist. Am Ende ging und geht es immer noch um Macht und wirtschaftliche Interessen.
Interessant ist, dass wir uns diesen heutigen Gegebenheiten nur bedingt stellen. Wir liefern nach Ghana und in andere westafrikanische Staaten die restlichen Kleinteile von geschlachteten Hühnchen. Dort kaufen die Leute das günstige importierte Hühnerfleisch – und die heimischen Landwirte haben das Nachsehen. Wen interessiert das bei uns? – Und auf der anderen Seite brauchen wir offensichtlich dieses Denkmal. Die Untaten der Vergangenheit rechnen sich mit den Untaten der Gegenwart nicht auf. Aber: Wir haben aktuell viele Dinge, wo wir sehr kolonialistisch als westliche Welt, und damit auch Deutschland, unterwegs sind. Der Baustellen gäbe es viele. Mein Gedanke dabei ist, den differenzierten Blick auf die Portugiesen zu haben, was das Bild komplexer macht. Bei aller Aufarbeitung gibt es auch heute noch Baustellen, wo uns das Smartphone mit den seltenen Erden sehr angenehm ist und wir es uns zunutze machen. Niemand verzichtet auf sein Smartphone, nur weil seltene Erden aus dem Kongo darin sein könnten, die dort vielleicht von jungen Männern unter menschenunwürdigen Bedingungen ausgebuddelt werden mussten.
Wer in die Vergangenheit vorwurfsvoll agiert, muss auch heute in das Spiegelbild seiner selbst schauen und gucken, wie er damit umgeht.
Vanessa Hoffmann | Nur weil es heutzutage viele Baustellen gibt, heißt das nicht, dass man nicht irgendwo anfangen muss. Die Frage ist, an was möchte man sich erinnern?
Zum Beispiel mit dem Entwurf des „EarthNest“ möchte man sich an die Opfer des Kolonialismus erinnern und eine neue Erfahrung schaffen, die Menschen wieder verbindet. Währenddessen möchte man sich in Portugal offensichtlich nicht an die kolonialen Anstrengungen erinnern.
Ralf M. Ruthardt | Lassen wir unsere jeweiligenGedankengänge so stehen. Woher, Vanessa, kommt dein Interesse an Erinnerungskultur?
Vanessa Hoffmann | Mein Interesse rührt daher, dass ich mich im Studium intensiv mit Erinnerungskultur und mit kollektiver Erinnerung beschäftigt habe. In Berlin, im Treptower Park, war früher mal eine große Kolonialausstellung. Aber heutzutage gibt es dort kein Denkmal, das darauf hinweist.
Lediglich eine heruntergekommene, schwer zu lesende „Gedenktafel“ – wenn man sie so betiteln kann – weist darauf in einem kleinen Absatz hin.
Ralf M. Ruthardt | Wir Menschen setzen uns mit verschiedenen Themen auseinander. Jedoch meist nie mit allem, was potenziell auf der Agenda einer Gesellschaft steht. Nehmen wir exemplarisch einen Physikstudenten an der Technischen Universität Berlin, der viel in seinem Fachgebiet arbeitet. Aber er hat womöglich keine oder wenig Ahnung von der kolonialen Zeit Deutschlands. Ist er deswegen ein schlechter Mensch? Nein, natürlich nicht. Jeder Mensch hat seine eigenen Prioritäten. Wir müssen als Menschen ob der Flut an Informationen und Herausforderungen selektieren und priorisieren, sonst gehen wir in unserem Sein unter.
Das gilt auch für die besagten unterschiedlichen Sichten in anderen Ländern. In Deutschland, so mein Eindruck, neigen vor allem Menschen in den urbanen Zentren zu umfassender Aufarbeitung. Aber gleichzeitig wird kaum etwas für das Hier und Heute abgeleitet. Wenn ich in Afrika unterwegs bin, schmerzt es mich, dass wir als westliche Industrieländer – bei aller Hilfsbereitschaft in Form von Spenden – keine fairen Preise für die Rohstoffe bezahlen wollen. Wie sollen afrikanische Länder und andere Regionen auf die Beine kommen, wenn wir über Denkmäler diskutieren und sich im Alltag vor Ort nichts Wesentliches ändert? Wir ringen heute um Rohstoffe und importieren diese; zu oft, ohne einen angemessenen Preis den Herkunftsländern zuzugestehen. Es gibt viele Baustellen, aber es ist wichtig, differenziert und reflektiert mit unserer Vergangenheit und Gegenwart umzugehen.
Vanessa Hoffmann | Es ist interessant, was du sagst. Aber wir müssen ja mit etwas anfangen. Und wenn es ein kleiner Schritt ist, den wir in der Aufarbeitung gehen. Ich sehe es als einen kontinuierlichen Prozess, der Engagement und Geduld erfordert. Aber ich bin optimistisch, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Durch Initiativen wie das dekoloniale Denkzeichen und andere künstlerische Interventionen können wir einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit leisten und gleichzeitig einen Raum für Begegnung und Austausch schaffen.
Ralf M. Ruthardt |Wir haben unterschiedliche Sichten – und das ist selbstredend für uns beide aushaltbar. – Es ist ermutigend zu sehen, dass du und viele andere junge Menschen sich für dieses und für andere wichtige Themen einsetzen.
Nun haben wir noch ein anderes, für mich kaum fließend aussprechbares Stichwort auf unserer Gesprächsagenda: Es ist die Kontextualisierung von Denkmälern. Bitte lass uns darüber sprechen und mich verstehen, wie du dazu gekommen bist.
Vanessa Hoffmann | Mein Engagement hat sich aus einem Uni-Seminar entwickelt, wo wir uns mit der Instandhaltung und Kontextualisierung von Denkmälern beschäftigt haben. Mit einer Gruppe von Leuten sind wir in der Diskussion gewesen, wie wir das angehen wollen. Eine Überlegung könnte sein, dass wir uns an die zuständigen Berliner Bezirksämter wenden oder Petitionen starten, um mehr Bewusstsein für die koloniale Vergangenheit zu schaffen.
Ein Ansatz könnte sein, mehr künstlerische Interventionen zu fördern und Denkmäler kritisch zu kontextualisieren. Wir haben uns mit der Bismarck-Statue in Berlin beschäftigt und überlegt, wie man dieses Denkmal durch künstlerische Aktionen umgestalten kann, um ihre historische Bedeutung besser zu vermitteln. Es ist wichtig, solche Themen in den öffentlichen Diskurs zu bringen und durch Veranstaltungen und Aufklärung ein Bewusstsein zu schaffen.
Gerade Bismarck mit seinen Machenschaften bei der Kolonialisierung muss ins öffentliche Bewusstsein der Menschen gebracht werden.
Ralf M. Ruthardt | Du sprichst von den „Machenschaften“ Bismarcks. Nun, mit Machenschaften verbindet sich, dass etwas im Verborgenen geschieht. Bismarck hat zu seiner Zeit offen seine Position zur Kolonialisierung geäußert. Diese ist der Kritik aus heutiger Sicht würdig. Damals war es in Europa ein Zeitgeist. Nein, das entschuldigt nichts. Aber es hilft beim Verstehen der damaligen Zeit und alleine das ist eine Mahnung an uns Menschen heute, den Zeitgeist zu hinterfragen und nicht bei vielem ohne eigenes Nachdenken mitzumachen.
Vanessa Hoffmann | Jedenfalls ist die Statue von Bismarck für eine Kontextualisierung sehr geeignet. Schließlich steht in fast jeder Stadt in Deutschland eine solche Statue.
Ralf M. Ruthardt | Als Mensch aus einer ländlichen Region kann ich dir mitteilen, dass es in den Kommunen meist nur für eine Bismarckstraße gereicht hat. (Lacht) Aber das nur am Rande für das urbane Publikum und dich.
Es ist faszinierend, wie man an einzelnen Personen oder Objekten der Geschichte so viel festmachen kann. Mir scheint dabei wichtig zu sein, dass die Kontexte gewürdigt werden und nicht nur auf negative Aspekte zu fokussieren. Dabei geht es nicht um das Relativieren. Es geht um die von mir oft genannte Differenzierung. Gibt es weitere Beispiele, die einer Aufarbeitung bedürfen?
Vanessa Hoffmann | Das Thema der Straße, in welcher hier unser Treffpunkt ist und unser Gespräch stattfindet, ist ein weiterer kritischer Punkt.
Ralf M. Ruthardt | Du meinst die Mohrenstraße hier in Berlin am Gendarmenmarkt?
Vanessa Hoffmann | Ich weigere mich, diesen Straßennamen auszusprechen. Es gibt die notwendige Diskussion über eine Umbenennung in den Namen des ersten deutschen Gelehrten afrikanischen Ursprungs: Anton-Wilhelm-Amo-Straße. Die Umsetzung ist schwierig, da solche Debatten oft nur auf Bezirksebene entschieden werden können und daher sehr kleinteilig zu führen sind.
Nun, wenn wir über Straßenbenennungen sprechen, kommt oft die Frage auf, welche Person oder welches Ereignis stattdessen geehrt werden soll. Es gibt so viele Möglichkeiten, aber es ist immer schwierig, eine Entscheidung zu treffen, die alle zufriedenstellt. Die Diskussion über die Straße hier zeigt, wie tief verwurzelt und komplex diese Themen sind. Es ist nicht einfach, eine Lösung zu finden, die sowohl die Geschichte anerkennt als auch die heutige Sensibilität berücksichtigt. Aber es ist ein notwendiger Prozess, um als Gesellschaft weiterzukommen und aus der Vergangenheit zu lernen.
Ralf M. Ruthardt | Es geht darum, einen Dialog zu führen und verschiedene Perspektiven zu hören. Nur so können wir zu einem besseren Verständnis und letztlich zu einem Konsens gelangen, der für die Mehrheit akzeptabel ist. Und während wir beide hier diesen konstruktiven und respektvollen Dialog führen, ist zu erkennen, dass wir inhaltlich mit unseren Argumenten und Erfahrungen und damit mit unseren Meinungen auseinanderliegen.
Indem wir jedoch diese Perspektiven teilen und diskutieren, können wir – ich meine die gesellschaftliche Dimension – auf einen Kompromiss oder auf eine Lösung kommen.
Vanessa Hoffmann | Absolut. – Es gibt noch viel zu tun. Ich hoffe, dass weiterhin entsprechende Projekte unterstützt und gefördert werden. Es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft zusammenkommen und gemeinsam an einer besseren Zukunft arbeiten.
Ralf M. Ruthardt | Vielen Dank, Vanessa, für dieses aufschlussreiche Gespräch.
Vanessa Hoffmann | Danke dir, Ralf, für die Gelegenheit, über dieses wichtige Thema zu sprechen. Es hat mir Spaß gemacht.
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